Das Märchen vom Beinwell
An einer Stelle des Gartens trafen sich drei Wiesenstücke, die waren sehr verschieden voneinander. Auf dem einen wuchsen prächtige Rosen und Lilien, das andere war die Heimat der Kräuter und das dritte Stück war gewöhnliche Wiese mit Gänseblümchen, Löwenzahn und Butterblumen.
Von Erde, sonne, Mond, den Sternen und dem Regen wurden sie alle gleich behandelt. Nur die Menschen gaben ihnen das Gefühl, sich zu unterscheiden. Wenn die Mutter in den Garten kam, führte ihr Weg immer zuerst zu den Rosen. Sie wurden gehegt und gepflegt, geschnitten und gedüngt und überschwänglich bewundert. Manchmal wurden sogar Gäste vor den großen blühenden Rosenstock geführt, die „ah“ und „oh“ ausstießen und ihre Finger über die Blätter streichen ließen. Kein Wunder, dass die Rosen mit der Zeit eingebildet und überheblich wurden.
Zur Kräuterecke kam die Mutter immer eilig. Die Elfen konnten gerade noch die Flucht ergreifen, dann blitzte auch schon die Schere in der Sonne und Blätter und Stängel wurden abgeschnitten. Die Kräuter wurden gebraucht, aber nicht geliebt wie ihre Nachbarn, die Blumen.
Am schlimmsten aber erging es den Wiesenblumen. Sie wuchsen ohne Pflege, ohne Liebe heran, wurden nicht einmal gebraucht. Alle paar Wochen kann die Sense und schnitt sie ab. Die Beziehung zwischen Rose, Beinwell und Löwenzahn verlief nicht gerade harmonisch. Die Rose beachtete die anderen kaum und wenn, machte sie sich über die niedrige Herkunft der anderen nur lustig. Der Beinwell fand wiederum den Löwenzahn sehr armselig, war stolz auf seine Heilkräfte und seine großen, starken Wurzeln. Die Rose nannte er dumm und eingebildet. Der Löwenzahn ärgerte die Schöne und den Gesunden, wo er nur konnte – er tat es wohl, weil er sich minderwertig vorkam.
Dieser Zustand änderte sich schlagartig, als eines Tages nicht zwei große Füße die Erde erschütterten, sondern zwei kleine, zarte: ein kleiner Bub kam in den Garten gelaufen.
„Blüten, stillgestanden“, kommandierte die Rose, denn für sie stand fest, dass das Kind zu ihr gelaufen kam, sie zu bewundern. „Erste ein Kind und kennt doch schon die Schönheit!“ rief sie entzückt.
„Unsinn!“ brummte der Beinwell. „Sieh dir sein blutendes Knie an. Ein kluges Kerlchen, weiß schon, wohin er zu gehen hat!“
Noch bevor sich der Löwenzahn eine bissige Bemerkung einfallen lassen konnte, lag das Kind schon bei ihm auf der Wiese und schaute die zarte weiße Kugel mit großen Augen an.
„Doch kein Geschmack!“ rümpfte die Rose ihre Stacheln.
„Und noch dumm“, lachte der Beinwell ärgerlich.
„He, Pusteblume, möchtest Du fliegen?“ Der Löwenzahn, war ganz aufgeregt, noch nie hatte jemand mit ihm gesprochen – bisher war immer nur auf ihm herumgetrampelt worden. Er richtete seine Kugel voll kleiner Fallschirme auf und rief: „Oh, ich bitte sogar darum. Ich reise gern!“
„Pah, reise gern“ ätzten die Rose und der Beinwell.
Das Kind riss so vorsichtig den Stängel von der Wurzel, dass es der Löwenzahn kaum spürte, und dann pustete es, so stark es konnte, die Härchen in die Lift. Der Wind nahm die Flieger unter seinen Schutz und trug sie weit fort.
Von diesem Tag an kam das Kind jeden Tag, und abwechselnd ließ es den Löwenzahn fliegen oder flocht aus den Gänseblümchen solch hübsche Blumenkränze, das die Rose ganz neidisch wurde. Nur die aufmunternden Worte der Mutter ließen sie vor Kummer nicht verwelken.
Die Schritte des Kindes wurden im Laufe der Jahre immer schwerer und dann kam die Zeit, wo es sich nur noch selten im Garten blicken ließ. „Ich wusste es ja“, sagte der Beinwell zur Rose, „bald wird der Junge zur mir kommen – er wird ja sicher mal klüger.“
„Das allerdings glaube ich nicht, verehrter Beinwell“, antwortete die Rose. „Seine Mutter wird ihm von mir erzählen. Bald werde ich seine Nase spüren, die meinen Duft entzieht. „Der Löwenzahn und alle anderen auf der Wiese ließen sich auf solche Gespräche nicht mehr ein. Sie waren glücklich und träumten von ihren unzähligen Geschwistern, die von ihrer Wiese aus die Reise in die weite Welt angetreten hatten und damit für immer mit ihnen verbunden waren.
Fast hätten die Rose und der Beinwell das Kind vergessen, als eines Tages noch schwerer Schritte als die der Mutter durch den Garten liefen. Die beiden waren so überrascht, dass sie sich gerade noch von ihrem Sonnenbad aufrichten konnten. „Er läuft so, wie seine Mutter immer läuft, wenn sie zu mir kommt!, rief der Beinwell triumphierend.
„Es sieht fast so aus“, seufzte die Rose, die die blitzende Schere in seiner Hand entdeckt hatte. Und die war für das gemeine Kraut bestimmt. Doch der junge Mann kniete vor dem Rosenstock nieder und …“HALT, du darfst mich nicht …“, schrie die Rose entsetzt auf, aber der Mensch hörte nicht – er hätte in diesem Augenblick nicht einmal die Stimme eines Menschen gehört. „Sie liebt mich!“ Schnipp! „Sie liebt mich!“ Schnapp. Und so ging das, bis keine einzige Rose mehr am Stock übrig war. „Du schönste Ros, du wirst ihr erzählen, wie sehr ich sie liebe!“, rief der junge Mann und eilte so schnell davon, dass sich der Beinwell und der Löwenzahn von der Nachbarin gar nicht verabschieden konnten.
Eine seltsame Zeit brach an: Niemand ließ sich im Garten blicken. Keine Mutter, die neue Rosen und Lilien gepflanzt, niemand, der ein Kraut gebraucht hätte, auch die Sense blieb aus. Es schien, als wäre der ‚Garten vergessen worden. Nun gab es keine Hand, die eines der Gewächse bevorzugte, keine Worte, die eines besonders hervorgehoben. Der Beinwell, der Älteste, erinnerte sich an die Rose, die längst zu Erde geworden war, an den einfachen Löwenzahn, dessen Fallschirme irgendwo eine neue Heimat gefunden hatten.
„Für wen habe ich all die Jahre meine Kräfte gespeichert?“, klagte der Beinwell. „Das Kind spielte mit dem Löwenzahn, der Jüngling schenkte die Rosen. Und mich haben sie vergessen …“
Plötzlich spürte der Beinwell schnelle, schwere Schritte. So war doch die Mutter immer gelaufen, wenn sie ihn zum Kochen oder für eine Salbe gebraucht hatte.
„Wo ist nur der Beinwell?“, hörte er ihre Stimme rufen. „Hoffentlich wächst er noch in dieser Wildnis. Wo ist er den? Ich brauche ihn doch so dringend!“ Sie bog hastig das Gras und all das Unkraut zur Seite, bis sie ihn endlich fand. „Dem Himmel sei Dank!“ rief sie und zum ersten Mal, seit sein Same in die Erde gefallen war, sprach jemand zu ihm: „Beinwell, ich flehe dich an, nimm all deine Kraft mit ins Haus. Du musst meinen Sohn heilen, den sie mir mit furchtbaren Wunden aus dem Krieg gebracht haben. Du bist meine letzte Hoffnung!“
Dann riss sie alle Blätter und Wurzeln, die sie finden konnte, aus der Erde.