Wie tot sind die Toten?(öffentlicher Vortrag vom 03.11.98) Die Beziehung der Lebenden zu den Toten im Wandel der Zeiten
H a m l e t. Nein, wahrhaftig, im geringsten nicht. Man könnte ihm bescheiden genug dahin folgen und sich immer von der Wahrscheinlichkeit führen lassen. Zum Beispiel so: Alexander starb, Alexander ward begraben, Alexander verwandelte sich in Staub; der Staub ist Erde; aus Erde machen wir Lehm: und warum sollte man nicht mit dem Lehm, worein er verwandelt ward, ein Bierfaß stopfen können?
Der große Cäsar, tot und Lehm geworden,
Verstopft ein Loch wohl vor dem rauhen Norden.
O daß die Erde, der die Welt gebebt,
Vor Wind und Wetter eine Wand verklebt.
Doch still!doch still!Beiseit!hier kommt der König!
Hamlet (5. Akt/1. Szene; Friedhofsszene, Hamlet mit Yoricks Schädel in der Hand)
Beachte die merkwürdige Beziehung, die Hamlet zur jenseitigen Welt hat: zuerst erscheint
ihm der tote Vater, meint „es gibt mehr Ding‘ im Himmel und auf Erden, als eure
Schulweisheit sich träumt“, dann spricht er vom Jenseits als dem „unentdeckten Land, von
des Bezirk kein Wandrer wiederkehrt“ und schließlich so, wie in obigem Zitat!
Hamlet, der wiedergeborene Hektor, der Zweifler, der sich nicht zurecht findet, weil er
den Umschwung vom gruuppenhaften Ich zum Individual-Ich noch nicht vollziehen kann
(vg. GA 139, Vo 15..9.1912)
Ahnenkulte in allen alten Kulturen bezeugen den lebendigen Verkehr mit den Toten. Man
denke nur an die Ägyptischen Totenbücher oder an das Tibetanische Totenbuch, das
persische Zend Avesta usw., wo der Tote auf seinem Weg begleitet wird. Das Grab ist die
Kommunikationsstätte mit den Toten; das setzt sich bis in die christliche Tradition fort !
Grab = Altar; Katakomben; wird aber immer mehr bloße Konvention.
Aber schon mit der beginnenden griechisch-lateinischen Zeit wird die Verbindung zu den
Toten immer schlechter. Schon Homer schreibt: „Lieber ein Bettler auf Erden als ein
König im Reich der Schatten.“
Im Mittelalter dann tritt ein ganz neuer Aspekt auf im Streit der Scholastiker mit den
Averoeisten über die individuelle Unsterblichkeit.
Dantes „Göttliche Komödie“ ist bereits fast ein letzter Ausdruck dieses geistigen
Bewußtseins, das uns mit den Toten verbindet. Aber auch Shakespeare ahnt noch etwas
!Macbeth, Hamlet, Richard III., Sturm: „Wir sind von jenem Stoff, aus dem die Träume
werden, und dieses kleine Leben umfaßt ein Schlaf.“
Schließlich macht sich immer mehr der Aberglaube breit, der rein seelisch-geistige
Erscheinungen als sinnliche mißdeutet, und gegen den die aufstrebende Naturwissenschaft
zurecht zu Felde gezogen ist. Spiritismus als Ausdruck des wachsenden Materialismus geht
bes. von England aus.
Was geschieht beim Tod? Der Körper wird vom Leben verlassen. Das Leben gibt dem Körper seine Form, ohne Leben
zerfällt er.
Die Form des Körpers kann nicht aus dem Stoff, etwa aus den Genen erklärt werden.So wie sich das übersinnliche Licht an der Materie durch Farben kundgibt, so das
übersinnliche Leben als gestaltete Form. Schon das Licht ist lebendige Bildekraft; es läßt
nicht nur die Farben erscheinen, es baut auch das Auge, wie Goethe richtig sagt:
Wär‘ nicht das Auge sonnenhaft,
Wie könnten wir das Licht erblicken?
Lebt‘ nicht in uns des Gottes eigne Kraft,
Wie könnt‘ uns Göttliches entzücken?
Das Leben ist substanziell und es ist kosmischen Ursprungs. Es ist lebendige
Formbildekraft.Mit dem Tod kehrt das Leben wieder zum Kosmos zurück (Licht- und
Wärmeerscheinungen bei der Verwesung). Zwar vergeht das Leben nicht, aber es geht im
kosmischen Leben auf.
Leben ist das Prinzip der Pflanzenwelt; sie lebt im Grunde von Licht, Luft und Wasser.
Pflanzen verwelken, aber man kann nicht im eigentlichen Sinne vom „Tod“ der Pflanzen
sprechen. Sie wuchert solange in den Raum hinein, als sie nicht durch äußere Einflüsse
daran gehemmt wird. Die Pflanze lebt vom kosmischen Licht, aber ihr fehlt das bewußte
seelische Erleben.
Die Tiere nehmen den Tod in ihr Wesen auf. Das ist der Preis dafür, daß in ihnen das
innere Licht des Bewußtseins aufleuchten kann. Mit dem ersten Atem tritt das Tier in die Welt und mit dem letzten Atemzug verläßt es sie wieder:
Das Bewußtseinslicht verbrennt den Körper.Das Leben des Tieres entfaltet sich in einem abgeschlossenen Hohlraum und wird
beständig gehemmt. Vegetativer Lebenspol (Stoffwechsel) und animalischer Todespol
(Nervensystem) entstehen.
Jene Bildekräfte, die nicht mehr in der Körperbildung aufgehen, werden ins Seelische
zurückgespiegelt -> aus dem bloßen Leben wird das bewußte Erleben. - Zitat :
Der Tod, der unser Leben beständig begleitet, schenkt uns das Bewußtsein. Wenn am Ende
des Lebens durch den Tod der ganze Körper abgestoßen wird, muß das Bewußtsein
geradezu aufleuchten. Der Tod, von der geistigen Seite aus gesehen, ist das herrlichste
Erlebnis, das man sich nur vorstellen kann.
Mit dem Tod erlischt das an die Sinne und den Leib gebundene Seelenleben. Daneben
gibt es aber noch ein anderes, ein ewiges; aber dieses ist nicht individuell, sondern
arttypisch. Und dieses baut den Leib des Tieres ->die Gestalt des Tieres ist Ausdruck
seiner Gruppenseele. Sie beschränkt die reinen Lebenskräfte derart, daß die spezifische,
einseitig geprägte Tiergestalt entsteht.
Demgegenüber ist die menschliche Gestalt allseitig (Sphinx ->Adler, Löwe, Kuh; Reptil)
und zugleich individuell geprägt. Die Gestalt des Menschen ist individuell, an ihr erkennen
wir das unverwechselbare Ich des Menschen. Und diese individuelle Gestalt ist Ausdruck
der individuellen Seele, und diese ist unsterblich. Die sinnliche, körperlich orientierte Seele
erlischt mit dem Tod wie beim Tier. Der individuelle geistdurchformte Seelenker geht weiter. Wie kann man ihm begegnen ?